Dr. Syeda_Ordi

Nach der Umfrage mussten 31 Prozent der Länder die Versorgung bei akuten Herz-Kreislauf-Problemen einschränken oder ganz unterbrechen. 42 Prozent beschnitten die Versorgung bei Krebspatienten, 49 Prozent bei Diabetespatienten und mehr als die Hälfte konnte die Versorgung bei Menschen mit Bluthochdruck nicht wie sonst aufrechterhalten. Rehaprogramme wurden in 63 Prozent der Länder zurückgefahren. Vorsorgeprogramme, etwa zur Erkennung von Brustkrebs, waren ebenfalls betroffen. Hochrechnungen von Wissenschaftlern zufolge könnten infolge der Coronavirus-Pandemie weltweit geschätzt rund 30 Millionen geplante Operationen verschoben oder abgesagt werden. Das geht aus einer Analyse der Universität Birmingham hervor, deren Ergebnisse ebenfalls kürzlich veröffentlicht wurden.

"Arzt-Termine wurden von den Patienten während des Lockdowns abgesagt,  weil sie Angst vor einer COVID-19 Ansteckung hatten."

Forscher an der Kardiologie der Medizinischen Universität Graz haben die Zahlen der Patienten mit Herzinfarkt, Lungenembolie und Aortenriss während der sechs Wochen des Lockdowns in den Spitälern der Steiermärkischen Krankenanstaltengesellschaft (KAGes) ausgewertet. Insgesamt wurden 23 Prozent weniger Pateinten eingeliefert, aber es starben 80 Prozent mehr Patienten innerhalb von 14 Tagen an einem Herzinfarkt. Die Dunkelziffer, also jene, die gar nicht ins Spital kamen, ist hoch. Mediziner gehen davon aus, dass nicht nur während des Lockdowns viele nicht ins Spital oder in die Ordinationen kamen, sondern auch danach die Angst vor Ansteckung weiterhin hoch war. Auch eine Studie der Universität Innsbruck zeigt, dass in der Lockdown-Phase die Herzinfarkt-Patienten mit großer Verspätung ins Spital kamen.

„Arzt-Termine wurden von den Patienten während des Lockdowns abgesagt, einerseits  wegen der verhängten Ausgehbeschränkungen, aber auch weil sie Angst vor einer COVID-19 Ansteckung hatten. Viele wollten ihr Heim erst gar nicht verlassen, selbst nicht bei akuten Beschwerden“, sagt Prof. Mag. Dr. Bonni Syeda (Bild links), Fachärztin für Innere Medizin & Kardiologie im Ärztezentrum Krankenhaus Nord, und betont: „Wir müssen das Vertrauen der Patienten wiedergewinnen und ihnen klarmachen, wie wichtig es ist, dass sie ihre Kontrolluntersuchungen beim Arzt wahrnehmen. Denn gerade Patienten mit Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege oder des Stoffwechsels tragen ein überdurchschnittlich hohes Risiko für besonders schwere Krankheitsverläufe im Rahmen einer COVID19-Infektion. Daher ist auch eine rechtzeitige Therapie-Optimierung betreffend diese Vorerkrankungen absolut essentiell.“ 

Auch Syeda hat den Trend beobachtet, den die Forschergruppen belegen: „Oft war es so, dass Menschen erst Tage nach Beginn ihrer Beschwerden uns Kardiologen in den Ordinationen aufsuchten, und dann mussten wir häufig einen Herzinfarkt oder eine Lungenembolie feststellen. Direkt ins Spital fahren war für die Patienten meist gar keine Option, erstens eben aus Sorge vor einer Ansteckung, aber auch weil die Spitäler bekanntlich einen reduzierten Betrieb hatten und ein Zutritt für die Patienten sehr schwierig war.“

Im Sommer hat Syeda oft über Angehörigen erfahren, dass manche ihrer Patienten während des Lockdowns verstorben waren. Viele hatten zuvor Brustschmerzen, aber keinen Arzt aufgesucht. „Mittlerweile haben sich die meisten unserer Patienten in den Ordinationen wieder zurückgemeldet“, freut sich Syeda. Dennoch ist sie überzeugt, dass die medizinischen Folgen des Lockdowns noch langfristig spürbar sein werden: „Die Immobilität im März und April zeigt erst jetzt ihre Folgen: Sehr viele Patienten weisen nun einen höheren Body-Mass-Index auf und vor allem die Diabetiker haben deutlich erhöhte HbA1c-Werte. Aber auch bei den Blutdruck- und Cholesterinwerten sind gravierende Folgen merkbar“, fasst die Kardiologin zusammen.

"Sehr viele Patienten weisen nun einen höheren Body-Mass-Index auf und vor allem die Diabetiker haben deutlich erhöhte HbA1c-Werte."

Positiv ist, dass jene, die Behandlung brauchen, den Weg zum Arzt mittlerweile wieder suchen. Nachdenklich stimmt Syeda aber, dass Vorsorgeuntersuchungen immer noch hinausgezögert werden. „Derzeit steigen zwar wieder die Infektionszahlen, aber es sollte trotzdem nicht unnötig Angst verbreitet werden. Wir benötigen einen gesunden Mittelweg während dieser Pandemie, denn schließlich gibt es auch andere Krankheiten abseits von Corona. Da aber im Gesundheitswesen sehr strenge Hygiene- und Schutzmaßnahmen eingehalten werden müssen, steht einem Arztbesuch für eine Untersuchung oder eine Impfung überhaupt nichts im Wege. Im Gegenteil, das Zuwarten könnte weit schlimmere Folgen haben als eine allfällige Corona-Infektion“.

 

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